Die BFR KMR behandeln nicht „die Erkundung, Bewertung und Räumung chemischer Kampfstoffe“ (s. Kapitel 1 „Geltungsbereich und Ziele“, Absatz 1). Da bei der Historisch-genetischen Rekonstruktion von Kampfmittelbelastungen derartige Kampfmittel fallweise zu berücksichtigen sind, sollen hier einige grundsätzliche Hinweise gegeben werden.
Unter chemischen Kampfstoffen fasst man (industriell hergestellte) chemische Substanzen oder Gemische von Substanzen zusammen, die wegen ihrer hohen Toxizität im Sinne tödlicher oder schädigender Wirkung zu militärischen Zwecken verwendet werden. Im Gegensatz zu Explosiv- und Brandstoffen, die physikalisch wirken, sollen mit chemischen Kampfstoffen Lebewesen vergiftet oder verletzt werden.
Seit dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in Deutschland chemische Kampfstoffe entwickelt, produziert und erprobt. Die Kampfstoffe wurden im Wesentlichen von der chemischen Industrie entwickelt und produziert sowie in speziellen Anlagen in militärisch gesicherten Standorten erprobt und abgefüllt. Die Munition wurde im Zweiten Weltkrieg in hierfür extra eingerichteten Munitionsanstalten gelagert. Die Erprobung erfolgte in Deutschland nur auf wenigen militärischen Standorten.
Während des Ersten Weltkrieges wurden industriell hergestellte chemische Kampfstoffe, die erstmals 1915 bei Kampfhandlungen im belgischen Ypern genutzt wurden, nicht in Deutschland eingesetzt.
Auch während des Zweiten Weltkrieges wurden in Deutschland keine chemischen Kampfstoffe militärisch eingesetzt. Die einzige dokumentierte Freisetzung von chemischen Kampfstoffen durch Kampfhandlungen erfolgte am 8. April 1945 durch einen amerikanischen Jagdbomberangriff auf einen mit Tabunbomben beladenen Güterzug bei Lossa in Thüringen.
Zum Ende des Zweiten Weltkrieges bedingte die Rückführung großer Mengen an Kampfstoffmunition in das Kerngebiet des Deutschen Reiches eine ungeordnete und häufig rasche Verlagerung auch in ursprünglich nicht dafür bestimmte Munitionsanstalten, in Freilager und auf Binnenschiffe.
Nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden große Mengen an chemischen Kampfstoffen und Kampfstoffmunition in speziellen Standorten, bei denen es sich zumeist um ehemalige Produktionsstätten oder Munitionsanstalten handelte, zusammengeführt und zum großen Teil dort vernichtet. Die Vernichtung erfolgte durch Verbrennen und chemische Umwandlung, in beachtlichem Umfang auch durch Vergraben. In Nord- und Ostsee wurden große Mengen versenkt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden chemische Kampfstoffe nur noch von den Gaststreitkräften in Deutschland gelagert. Die Bundeswehr besaß und besitzt keine chemische Kampfstoffmunition.
Auf dem Gebiet Deutschlands erfolgte weder im 1. noch im 2. Weltkrieg der gefechtsmäßige Einsatz von chemischen Kampfstoffen. Die Recherchen können sich damit ausschließlich auf die Standorte konzentrieren, auf denen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges chemische Kampfstoffe bzw. Kampfstoffmunition produziert, abgefüllt, erprobt, gelagert sowie nach dem Krieg vernichtet wurden.
Hierzu sind primäre Quellen in unterschiedlicher Qualität und Quantität überliefert worden. Die Produktion und teilweise auch die (militärische) Erprobung ist vergleichsweise gut dokumentiert. Dies liegt am besonderen Interesse der alliierten Streitkräfte, die während und nach den beiden Weltkriegen umfangreiches Material erbeutet und ausgewertet haben. Die resultierenden Berichte liefern die entsprechenden, detaillierten Informationen. Insofern kommt der Recherche in ausländischen Archiven eine besondere Bedeutung zu.
Demgegenüber sind zwar die meisten Standorte zur Lagerung bekannt, Details zu den einzelnen Standorten, deren internen Handlungsabläufen, dem Umgang mit undichter Munition und deren Beseitigung (zumeist durch Vergraben), sind nur selten quellenmäßig belegt. Ähnliches gilt für die Vernichtungsplätze.
Wegen der besonderen Geheimhaltung und der gezielten Aktenvernichtung bei Kriegsende sind auch in Primärquellen Informationslücken und -ungenauigkeiten vorhanden. Alle Informationen sind deshalb mithilfe weiterer Angaben zu überprüfen.
Für die Auswertung steht zudem eine größere Anzahl von Sekundärliteratur zur Verfügung. Deren sehr unterschiedliche Zielstellung und Qualität macht eine gewissenhafte Prüfung dort wiedergegebener Informationen notwendig.
Kampfmittelbelastungen, die gänzlich aus ehemaliger Kampfstoffmunition bestehen, sind in Deutschland selten. Einzelfunde aus beiden Weltkriegen können aber für Standorte, auf denen diese Stoffe bzw. Munition produziert, abgefüllt, erprobt, gelagert sowie nach dem Krieg vernichtet wurden, nicht ausgeschlossen werden.
Wegen des sehr hohen Gefährdungspotenzials und der besonderen gesetzlichen Bestimmungen sind an die Erfassung, Erkundung, Bewertung und Räumung entsprechend hohe Anforderungen zu stellen. Sie bedürfen langjähriger Erfahrungen. Die besondere Bedeutung erfordert darüber hinaus einen sensiblen Umgang mit den gewonnenen Informationen.